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Produkt- und Materialauswahl leicht gemacht

Inhaltsverzeichnis

Wie kannst Du die qualitativ und ästhetisch richtige Materialauswahl für Dein Projekt – egal welcher Grösse – bestimmen, ohne dass gleich Dein Geldbeutel implodiert? Um den Prozess zu vereinfachen, habe ich vier Schritte zusammengestellt, welche (zumindest für meine Projekte) gut funktionieren.

Es macht keinen Sinn, gleich im ersten Schritt die Oberfläche eines jeden Materials im Projekt zu bestimmen.
Zuerst muss analysiert werden: Welche Flächen gibt es überhaupt? Welchen Anteil haben sie ungefähr? Als Nächstes kann man sich mithilfe von Referenzen grob-orientieren, und den Eindruck vom Raum bestimmen. Welche Stimmung, welche Atmosphäre ist gewollt? Und als Nächstes: Was ist das grobe Farbkonzept? Hier geht es nicht um die Farben rot, grün oder blau – sondern die Helligkeiten, die Farbtöne, das Grundkonzept.
Erst wenn diese (etwas abstrakten) Vorstellungen geklärt sind, geht es in die konkrete Material-Auswahl.
Welches Material mit welcher Oberfläche macht für welchen Nutzen Sinn? Und: wie kannst Du Prioritäten setzen, sodass Du bei den Dir wichtigen Dingen investieren, und bei den weniger wichtigen sparen kannst?

  1. Eine grobe Materialübersicht erstellen
  2. Referenzen zur Hilfe nehmen
  3. Farbkonzept bestimmen mit der 60/30/10/S-Formel
  4. Prioritäten setzen nach Nutzung

Das Ziel der Material-Auswahl

Das höchste Ziel für mich in der Architektur ist, dass man sich in einem Raum nicht nur physisch wohl fühlt, sondern dass der Aufenthalt auch für den ästhetischen Sinn ein allumfassend befriedigendes Ereignis wird.
Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn beim Betreten eines Raumes dieser ‚Woah, cool! ‚- Eindruck entsteht, gefolgt von einem unwillkürlichen Innehalten.

Diese Empfindung ist – wie jedes Gefühl – natürlich abstrakt. Dennoch bin ich überzeugt, dass jeder schon einmal in den Genuss dieses Phänomens gekommen ist. Sei es beim Anblick des frisch aufgeräumt- und geputzten Wohnzimmers, in einer cool gestalteten Bar, beim Anblick einer bewegenden Fotografie, oder vielleicht sogar draussen in der Natur – im Angesicht einer atemberaubenden Aussicht.

Das Wort ‚atemberaubend‘ mag ein wenig übertrieben erscheinen für die Erwartungen an einen – nun ja – Raum. Aus meiner Sicht ist es das aber eindeutig nicht.
Atemberaubend ist das hochgesteckte Ziel, das es anzustreben gilt. Nicht weniger.
Und die entscheidende Rolle spielt dabei das Material. Das Material bestimmt, ob etwas einen schäbigen oder wertigen Eindruck hinterlässt, oder ob man etwas reparieren kann oder nach wenigen Jahren wegschmeissen muss.

Das Potential der Oberfläche

Wie bei einer Aussicht in der Natur sind es die Texturen um uns herum, die sich in der Summe zu einem Bild ergänzen. Die zerklüfteten Spalten der Felsen, die sanfte Brise im hohen Gras, die sich endlos wiederspiegelnden Wellen im Ozean.
Genauso ist es auch der matte Glanz vom Parkett, der grobe Stoffbezug vom Sofa, das matte Schwarz der Stereo-Anlage und die feine – sich im Licht verändernde Wandstruktur, die das Gesamtbild von einem Raum – sprich der Architektur – ausmachen.

Klar hat auch die Komposition, die Proportionen und die Grösse eines Raums einen Einfluss.
Aber Fakt ist: Mit den richtigen Materialien kann ein dunkles Kellerloch zu einem angenehmen Raum gemacht werden, während mit ungünstig gewählten Materialien ein Raum mit den besten Voraussetzungen ungemütlich wird.

Bei der Materialauswahl gilt es immer zwei Entscheidungen zu treffen. Das Trägermaterial an sich (Holz, Metall, Kunstharz, Glas, Beton, Plastik, was auch immer), und dessen Oberflächenbehandlung (geschliffen, gehobelt, geölt, lackiert, farbig gestrichen, poliert etc.)
Für eine Oberflächenbehandlungen gibt es unterschiedliche Beweggründe: Einige Behandlungen haben einen rein ästhetischen Grund, zum Beispiel wenn ein Möbel farbig gestrichen wird. In anderen Fällen dient die Oberflächenbehandlung zum Schutz des Materials darunter. Somit schützt zum Beispiel die Pulverbeschichtung des Ofens den blanken Stahl vor Kontakt mit Wasser, damit er nicht anfängt zu rosten. Ein dritter Grund kann die Verlangsamung des Alterungsprozesses, oder der Patina sein – falls diese nicht gewollt ist.

1. Materialübersicht erstellen

Mein Punkt ist: Die Material ist wichtig! Und nun zur eigentlichen Frage: Wie kannst Du jetzt die besten Materialien bestimmen? Und wie gelingt dies mit einem vernünftigen Budget?
Als Erstes hilft es, eine Übersicht der Materialien für Dein Projekt zusammenzustellen. Dabei ist es unwichtig, wie gross das Projekt ist. Bei einem Hausprojekt gibt es Wände, Decken, Böden, Türrahmen – wo es zum Beispiel bei einem Küchenprojekt Fronten, Abdeckung, Armaturen und Griffe gibt.

Als Beispiel nehme ich mein Tiny Glamping House. Ein kleines Einraum-Projekt, wobei trotzdem fast jede Oberfläche eines ‚richtigen‘ Hauses entschieden werden muss.
Ich unterteile in Innen und Aussen, ungefähr sortiert nach Flächenanteil:
Diese Materialien werden später noch durch Textilien (Vorhänge, Kissen, Teppich, …) und Ausstattung bzw. Dekoration (Bucher, Geschirr, Pflanzen, …) ergänzt. Da diese Dinge aber zu jeden späteren Zeitpunkt leicht verändert werden können, spielen sie jetzt nicht so eine grosse Rolle.

Aussen

  • Dach und Spenglerarbeiten
  • Aussenverkleidung
  • Fenster und Türe

Innen

  • Wand- und Deckenverkleidung
  • Boden
  • Fenster und Türe
  • Sichtbare Holzkonstruktion
  • Möbel (Wandregal)
  • Küche

2. Referenzen zur Hilfe nehmen

Du hast jetzt eine grobe Übersicht über Deine Materialien. Wie gehst Du nun am besten an den Entscheidungsprozess heran? Das Problem besteht natürlich darin, dass es nur schon für das Material ‚Boden‘ eine Gazillion Möglichkeiten gibt. Googelst Du frisch-fröhlich ‚Bester Boden für ein Haus‘, ist das der sichere Tod Deiner Nerven und der Untergang deiner geistigen Gesundheit.
Es gilt, die Auswahl einzuschränken

Hier kommen Referenzen ins Spiel. Referenzen sind nichts anderes, als ‚Konkrete Inspiration‘. Bilder aus dem Internet, aus Büchern oder Fotos von schönen Räumen von Bekannten oder Kollegen. Vielleicht sogar Urlaubs-Fotos? 
Mit Referenzen – nicht als Kopievorlage, sondern als Richtlinie – erschlägst Du gleich mehrere Probleme mit einer Klappe:

  • Du musst das Rad nicht neu erfinden
  • Das ‚Design‘ existiert bereits und wirkt für das Auge weniger fremd
  • Sie helfen, Entscheidungen zu treffen

Bei mir entstammen die meisten Referenzen einem Mix aus Pinterest und Architektur-Büchern. So auch die Referenzen für das Tiny House Glamping Projekt: ein typisches Ökonomiegebäude aus der zentralschweizer Gegend, mit einem exponierten Fachwerk. Die Materialien für die Schalungen ist Holz, unbehandelt, und über Jahrzehnte hinweg gealtert zu einem dunkelbraun, welches fast schon schwarz ist.

Dieses dunkelbraune schwarz werde ich in der Fassade mit einer dunkelbraunen Schlammfarbe simulieren, da ich den natürlichen Alterungsprozess von einigen Jahrzehnten nicht abwarten möchte. Insbesondere auch, da die Patina wegen des Vordachs sehr unregelmässig ausfallen würde.

Meine Referenz für den Innenraum hingegen ist ein japanisches Tee- oder Wohnhaus, traditionell und modern.
Die japanischen Architekten sind oft der Überzeugung, dass das rohe Material die schönste Oberfläche bildet. In Anlehnung an dieses Vorbild werde ich mich auch in diese Richtung orientieren.

Grundsätzlich möchte ich gemäss der Aussenreferenz, dass das Haus dunkel in Erscheinung tritt – sodass es möglichst mit der Umgebung verschmilzt. Von innen jedoch soll es hell wirken, damit man sich in dem relativ kleinen Raum nicht beengt fühlt.
Der Gesamteindruck im Innenraum soll also hell sein, und die Materialien eher unbehandelt – angelehnt an die Referenz. An sich noch nicht ganz aussagekräftig, aber ein Anfang!

„When a designer sets out to express only the beauty of materials with no paint, he pours all of his being into nature and form.“

Kiyoyuki Nishihara in seinem Buch ‚Japanese Houses: Patterns for living‘

3. Farbkonzept bestimmen mit der 60/30/10/S-Formel

In einem Buch mit Tipps zur Innenarchitektur von Frida Ramstedt wurde ich mit der 60-30-10-S Regel bekannt gemacht. Damit sind die Verhältnisse, oder die proportionale Verteilung der Farben oder Farbtöne gemeint. 60% der Oberflächen haben eine Hauptfarbe, 30% der Oberflächen eine Nebenfarbe, 10% eine dritte Farbe. Hinzu kommt, quasi als Dessert, etwas Schwarzes für Kontrast.
Durch die Referenz-Auswahl ist das Farbkonzept in meinem Fall schon fast vorbestimmt. Was genau diese Materialien sind – und welche Oberfläche sie haben (welches Holz, welcher Stoff etc.) wird erst im nächsten Schritt angeschaut.

Hauptfarbe
60%

  • Holzkonstruktion
  • Sperrholz
  • Tatami-Matten

= BEIGE

Sekundärfarbe
30%

  • Boden Eingangsbereich
  • Griffe Möbel

= DUNKELBRAUN

Tertiärfarbe
10%

  • Textilien
    Vorhang, Kissen
  • Pflanzen

= GRÜN

Etwas
Schwarzes

  • Ofen
    pulverbeschichtet
  • ev. Küchenmöbel?

= SCHWARZ

4. Prioritäten setzen nach Nutzung

Schliesslich kommen wir zum letzten relevanten Punkt in der Material-Auswahl: dem priorisieren. Leider ist es finanziell nicht vertretbar, für jede Oberfläche die hochwertigste Variante zu wählen. Intensiv genutzte und berührte Oberflächen altern viel schneller und werden schon nach kurzer Zeit Patina bzw. Alterungs- oder Verschleis-Spuren zeigen. Entsprechend ist es sinnvoll, dort in hochwertige Materialien zu investieren.
Persönlich gehe ich nach dem Prinzip vor: Je näher, umso wertiger.

Es gibt Oberflächen, die man fast ausschliesslich mit Abstand betrachtet. Wände oder Decken zum Beispiel. Und dann gibt es Oberflächen, die man täglich berührt. Türdrücker, Schubladengriffe, Lichtschalter.
Und dann gibt es noch Oberflächen, die grundsätzlich oft und intensiv genutzt werden, beispielsweise eine Küchenarbeitsplatte, ein Esstisch, oder ein Boden im Badezimmer. 
Je mehr und öfter eine Oberfläche berührt wird, desto hochwertiger sollte diese sein.

Beispiel: In meinem Elternhaus wurden Türgriffe verbaut, welche sich nach genauerer Betrachtung als verchromtes Plastik herausstellen. Nach 25 Jahren in Gebrauch ist das Chrom vom vielen Berühren abgeschliffen, und schaut echt schlimm aus. Es wirkt irgendwie unangenehm klebrig, wenn man es berührt – egal wie es gereinigt wird.
Ein Türdrücker aus verzinktem Messing hingegen ist fast unmöglich abzunutzen, und nicht extrem viel teurer als ein verchromter Plastikgriff. Ausserdem liegt er schwer und massiv in der Hand, was ein wertiges Gefühl vermittelt.
Diese Investition lohnt sich also auf jeden Fall.

Priorität 1

Materialien, welche täglich mehrmals berührt werden.

  • Türdrücker
  • Schubladengriffe
  • Lichtschalter

Priorität 2

Materialien, welche intensivst genutzt werden.

  • Küchenarbeitsplatte
  • Esstisch
  • Badezimmer-Boden

Priorität 3

Materialien, welche man mit Distanz anschaut oder nicht oft berührt.

  • Wände
  • Decken
  • Möbel-Fronten (nicht Griffe)

Zusammenfassung

Die Schwierigkeiten von Entscheidungen wo es 1000 Möglichkeiten gibt, sind mir als Architektin sehr wohl bekannt. Die vorgestellten Schritte sollen nicht als Einschränkung oder Vorgabe dienen, sondern als Hilfestellung für diesen schwierigen Entscheidungsprozess der Material-Auswahl.
Ich bin der Meinung, dass die Wirkungsgewalt des Materials und seiner Oberfläche zu oft unterschätzt wird. Wieso wurden die MacBooks von Apple so bekannt? Sicher wegen des schlanken und minimalistischen Designs, aber insbesondere wegen seiner hochwertig anmutenden Magnesium-Oberfläche. Man hält es gerne in der Hand und möchte fast schon zärtlich darüberstreichen – im Gegensatz zu allen anderen Plastik-Gehäusen, die damals gleichzeitig auf dem Markt waren.

Das Bestimmen jedes einzelnen Materials ist ein Prozess. Aber ein Prozess, der Spass machen kann und sich auf jeden Fall lohnt – ästhetisch und finanziell.
Welches sind Deine Material-Favoriten?