Das spannende Potential der Tiny House Statik
In diesem Beitrag möchte ich versuchen, Dich ein wenig für das Thema Tiny House Statik und seine Potentiale zu begeistern – und das involviert null Mathematik!
Wenn Du nicht Ingenieurin oder Holzbauer von Beruf bist, kann ich mir vorstellen, dass Dich Statik herzlich wenig interessiert. Im Normalfall wirst Du Dich damit auch nicht herumschlagen müssen. Üblicherweise kannst Du Dich auf Erfahrungswerte anderer Tiny House-Bauenden verlassen, oder Du überlässt das Thema gleich einem Tiny House Hersteller oder Wagenbauer.
Aber was sind denn diese Potentiale?
- Gewinne Platz mit einer schlanken Konstruktion und minimalem Wandaufbau
- Verlängere die Lebensdauer Deines Projekts!
- Maximiere Planungssicherheit und minimiere spätere Anpassungen
- Ermögliche ausgefallene Ideen (in meinem Fall ein klappbares Vordach)
Ein Besuch beim Holzbau-Ingenieur
Ich werde Dir das Potential von Statik anhand meines kürzlichen Besuchs bei einem Holzbauingenieur erläutern.
Wieso ein Holzbau-Ingenieur? Mein Atelier Pavillon, welches ich aktuell bearbeite, ist ungewöhnlich. So ungewöhnlich, dass ich mich nicht auf Standard-Lösungen verlassen kann. Beispielsweise plane ich ein 1.5m auskragendes Vordach und eine gegen innen offen liegende Fachwerk-Konstruktion. Wieso? Weil ich es will! Entsprechend ist es zwingend, das ich mich mit der veränderten Statik auseinandersetze.
Aus eigener Erfahrung mit Holzbauingenieurinnen weiss ich, wie sehr ihr Einbezug – besonders in einem sehr frühen Stadium des Projekts – die Qualität vom Projekt erhöht. Mit diesem spezifischen Holzbauingenieur-Büro Makiol Wiederkehr aus Beinwil durfte ich auch schon bei vergangenen Architektur-Projekten zusammenarbeiten. Normalerweise betreuen Sie Grossbauten – von Brücken über Sporthallen bis Wohngebäude. Aber Fragen kostet bekanntlich nichts, und ich bekam erfreulicherweise eine positive Antwort auf meine Frage nach einem Besprechungstermin.
Nach dem Motto ‚Ich weiss ja nicht, was ich nicht weiss‘, bin ich also an die Sitzung gegangen und habe dem Ingenieur alle Fragen gestellt, die mich beschäftigt haben:
Fragen und Unsicherheiten
- „Findest Du mein statisches Scheiben-Konzept sinnvoll und umsetzbar? Gäbe es bessere Alternativen?“
- „Wo siehst Du die Knackpunkte bezüglich Schnee- und Windlast?“
- „Reicht die Dimensionierung meiner Holzpfosten aus?“
- „Hast Du eine Idee, wie ich das Dach ausführen soll?“
- „Soll ich das Projekt statisch durchrechnen lassen, um sicher zu sein, dass es auch hält?“
- Und zum Schluss: „Habe ich irgendetwas übersehen?“
Statisches Konzept
Mein Statik Konzept für den Atelier Pavillon besteht aus aneinandergefügten Scheiben – in Fachwerke mit Diagonalen aufgelöst. Man könnte natürlich auch mit einem Stützen-Platten-System arbeiten, aber ich möchte unbedingt Fachwerkrahmen bauen, da ich das schon einmal gemacht habe. Diese sind aus statischer Sicht nichts anderes als aufgelöste Scheiben, wie man in den Skizzen sehen kann.
Eine Scheibe ist in sich schon diagonal ausgesteift. Das heisst, wenn eine Kraft oder eine Last auf eine Ecke wirkt, verformt sich die Wand nicht. (z.B. bei Schnee, Wind, oder während dem Transport auf der Strasse in einer Kurve). Ich habe also lauter statisch wirkende ‚Scheiben‘: Bodenscheibe, Wandscheiben und ein Satteldach aus zwei Dreiecken mit Dach-Scheiben.
Lösung
Laut dem Ingenieur ist das Konzept machbar. Fachwerke sind im Holzbau oft genutzt, und sind eine der Ressourcen-sparensten Varianten, um eine ausgesteifte und stabile Wand zu bauen.
Anstatt die Dachscheiben in Fachwerke aufzulösen, empfiehlt er sie jedoch als tatsächliche Scheiben in Form zwei riesiger Bretter mit einer Dicke zwischen 60 und 100mm zu planen. (z.B. aus Brettschichtholz oder einer Dreischicht-Platte).
Finale Lösung nach vollendetem Projekt: An Fachwerken schätze ich die Eigenschaft, dass man sie ausdämmen kann. Entsprechend bin ich bei den Fachwerken geblieben – diese sind mit Streben ausgesteift. Ich nehme damit in Kauf, dass sich das gesamte Gebilde bewegt, und durch Torsion verformt werden kann.
Schnee- und Windlast
Das seitliche Vordach ist für mein Projekt essentiell, da der Eindruck von einem Haus, und nicht einem Fahrzeug entstehen soll. Ein grosses Vordach bedeutet aber auch, dass dieses gegenüber Schneelast und Windlast besonders ausgesetzt ist. Um die Statik für das Tiny House sicherzustellen, müssen auf jeden Fall beide Themen untersucht werden.
Schneelast
Die Schneelast wirkt als Flächenlast von oben, und drückt die Konstruktion zusammen, vom Dach bis ins Fundament. Die grösste Belastung ist hier in der Mitte der relativ dünnen Pfosten. Bei zu hoher Belastung können sie knicken und brechen. In der Schreinerei Holzlabor, wo ich den Atelier Pavillon baue, werden die Kanthölzer für die Fachwerkrahmen standardmässig auf einen Querschnitt von 45x45mm produziert. Das liegt daran, dass die Bretter aus den Sägereien mit einer Dicke von 50mm in die Werkstatt geliefert werden. Sind diese erst auf beiden Seiten abgehobelt, sind davon nur noch 45mm übrig. Das Holzlabor hat mit dieser Rahmendicke bisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Entsprechend möchte ich auch mit diesen Stärken arbeiten – wenn möglich.
Lösung
Der Querschnitt von 45x45mm ist gemäss dem Ingenieur tatsächlich zu klein bemessen. Über den Daumen gepeilt kann er jetzt schon sagen, dass das mit der zusätzlichen Schneelast vom Vordach nicht ausreichen wird. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Knicken der Pfosten zu verhindern. Bei beiden Lösungen muss beachtet werden, dass die Last direkt vom Dach über die Wand bis in das Fundament abgetragen wird.
Lösung A: Querschnitt erhöhen, indem man die Schalung teilweise statisch mit dem Pfosten zusammen aktiviert – welche ich sowieso als Konstruktionsschutz plane. Ein genialer Einfall, ich bin begeistert!
Lösung B: Querschnitt (z.B. in den extra belasteten Ecken) erhöhen von 45mm auf z.B. 70mm.
Ich werde mich vermutlich für einen Mix beider Lösungen entscheiden!
Finale Lösung nach vollendetem Projekt: Die Schalung wurde aus zeitlichen Gründen weggelassen, und die meisten Pfosten sind immer noch 45x45mm Pfosten. Die Ecken bestehen aber jeweils aus 2x 45x90mm Pfosten. Zusätzlich gibt es die gleichen Pfosten neben den Türen.
Windlast
Die Windlast ist ein wenig komplizierter. Ich dachte irrtümlicherweise, dass der Wind lediglich versucht, von unten das Dach anzuheben – und im schlimmsten Fall das Dach abreisst, oder das ganze Haus umkippt.
Das Problem ist aber verwickelter. Denn die durch die Windlast ausgelöste Belastung auf Zug wirkt nicht nur unter dem Dach, sondern in jeder einzelnen Verbindung. Das ist tatsächlich ein Problem, denn meine Verbindungen mit Zapfen und Holznägeln sind zwar auf Zug belastbar, aber niemals ausreichend, um z.B. einem Sturm standzuhalten. Die Nägel würden einfach abgeschert.
Lösung
Die Lösung für dieses komplexe Problem ist glücklicherweise eine Einfache. Mit dem Einfügen eines Stahlseils von ca. 6mm Durchmesser vom Dach bis in das Fundament (z.B. in den vier Ecken) kann sichergestellt werden, dass nur diese Stellen auf Zug belastet werden, nicht aber die Verbindungen. Ich bin höchst zufrieden mit diesem Vorschlag!
Finale Lösung nach vollendetem Projekt: Ich habe das Zugseil weggelassen…. mal sehen ob das gut kommt!
Dach
Beim einem Satteldach gibt es zwei Haupt-Möglichkeiten: Eine mit First und eine ohne First.
Bei einer Dachkonstruktion ohne First werden die zwei Dachscheiben wie bei einem Kartenhaus aneinandergelegt. Diese Konstruktion nennt sich ‚Sprengwerk‘. Da sich durch die Last von oben die Wände auseinanderdrücken, muss zwischen den Dachscheiben ein Zugband (z.B. ein Stahlseil) eingefügt werden.
Bei einer Dachkonstruktion mit First übernimmt der Querträger unter dem First die Rolle des Stahlseils. Über den Firstpfosten wird die Last auf den Träger übertragen, und von dort in die Wand abgeleitet.
Idealerweise wird dieser Firstpfosten bis auf den Boden verlängert. Das bedeutet jedoch, dass in der Mitte der Fassade kein Fenster eingefügt werden kann, und diese Option will ich mir offen halten.
Lösung
Beide Optionen sind denkbar. Aus meiner Sicht ist bei einer so kleinen Konstruktion die Variante ohne First direkter und eleganter. Ausserdem werde ich sowieso mit Seilen für die vertikale Zuglast (Wind) arbeiten, entsprechend kann man das gleich zum Thema machen.
Finale Lösung nach vollendetem Projekt: Die zwei Dachrahmen sind im First in einem 90 Grad Winkel aneinander montiert. Die Gesamtlänge des Pavillons ist 4m, entsprechend nehme ich in Kauf, dass in der Mitte wegen des Sprengwerks die Wandscheiben durch das Dach auseinandergedrückt werden können.
Weiteres Vorgehen – rechnen lassen?
Eine meiner grossen Sorgen war, dass der Ingenieur darauf bestehen würde die Statik von meinem Tiny House rechnen zu lassen. Dann könnte man sicher sein, dass alles funktioniert. Eine Besprechungs-Stunde ist das eine, aber die Rechen-Programme der Holzbau-Ingenieure sind komplex und das Ganze benötigt sicherlich – auch wenn das Projekt klein ist – mehrere Stunden oder sogar Tage.
Lösung
Meine Sorge stellt sich als unbegründet heraus. Der Ingenieur schlägt einen Mix aus Erfahrungswerten der Wagenbauer und den seinen vor. Eventuell muss etwas punktuell gerechnet werden, aber da ich das Projekt für mich selber mache und nicht einer Bauherrschaft verkaufe (die mich im Extremfall verklagt), kann man das Projekt als ‚Prototyp‘ betrachten.
Fazit Tiny House Statik
Diese eine Stunde Besprechung mit dem Ingenieur hat den Atelier Pavillon um einige riesige Schritte weitergebracht. Ich konnte alle meine Unsicherheiten adressieren, und bin insgesamt beruhigt. Ich bin zuversichtlich, dass die Tiny House Statik mit ein paar Anpassungen durchführbar ist, und auch funktioniert.
Insgesamt wird das Projekt durch diese statischen Überlegungen eleganter und authentischer. Anstatt einfach alle Querschnitte z.B. von 45×45 auf 80×80 zu erhöhen, kann so punktuell und viel effizienter gearbeitet werden.
Finaler Edit nach vollendetem Projekt: Bis jetzt hält der Prototyp 🙂