Wie man erfolgreich scheitert

Jeder von uns sollte öfters scheitern. Und damit meine ich nicht mit Deiner Ehe oder in Deinem Job als Chirurg oder Chirurgin.
Was ich meine, sind kleine bis mittelgroße Dinge, die nur Dich selbst betreffen.
Private Projekte, die Du aufgeschoben hast, wie den Couchtisch, den Du schon lange selbst bauen wolltest, das Spanisch, das Du lernen wolltest, oder die wenigen Programmierkenntnisse, die Du Dir angeeignet hast.
Ich empfehle Dir, bei all diesen Dingen zu scheitern. Um zu lernen und besser zu werden, um dann bei der nächsten Sache zu scheitern.

Ich weiß, das klingt kontraintuitiv, aber Scheitern ist eine wunderbare Sache und eine Fähigkeit, die es zu entwickeln und zu pflegen gilt. Wenn Du im Leben weiterkommen und Deinen Lebensunterhalt mit etwas verbringen willst, das Du wirklich gerne machst (ich setze das jetzt einfach mal als Ziel voraus), empfehle ich Dir, so viele Dinge auszuprobieren und in so vielen Dingen zu scheitern, wie Du nur kannst. Natürlich mit der winzig kleinen Chance, dass Du, wenn Du es oft genug probierst, irgendwann zufällig Erfolg hast.

Wer es nie versucht, wird es nie erfahren

Alles beginnt damit, dass man Dinge ausprobiert, von denen man weiß, dass man wahrscheinlich keinen Erfolg haben wird. Was würdest du versuchen, wenn du wüsstest, dass es garantiert klappt? Die Frau Deiner Träume um ein Date fragen, Motorraddesignerin werden, eine Boutique eröffnen?
Wenn Du in diesem Jahr fünf Dinge ausprobierst, und alle diese Dinge scheitern, hast Du trotzdem viel gelernt. Dich als Person weiterentwickelt, Fortschritte in den Fähigkeiten gemacht, die Du lernen wolltest, und wertvolle Informationen für zukünftige Unternehmungen gesammelt. Sollten nur drei oder vier dieser fünf Projekte scheitern – herzlichen Glückwunsch, Du hast etwas erreicht, was Du sonst nie versucht hättest!

Aber mit was soll man beginnen? Dieser Teil fällt mir persönlich leicht, denn ich habe schon immer gerne neue Dinge ausprobiert. Ob ich in der Lage bin, sie durchzuziehen, ist eine ganz andere Geschichte – meine Eltern können das gerne bestätigen. Ich kann mich sehr gut mit dem Begriff „Scanner“ identifizieren, den Barbara Sher in den 1980er Jahren für Menschen wie mich geprägt hat. Scanner sind Menschen, die sich leicht begeistern lassen, aber ständig auf der Suche nach neueren, glänzenderen Projekten sind, die alten verwerfen oder mehrere Projekte parallel laufen lassen. Und wenn man auf diese Weise so viele Dinge ausprobiert, sind die meisten davon zum Scheitern verurteilt, aufgrund der schieren Menge.

Da ich lange Zeit glaubte, dass diese Eigenschaft ein Makel darstellte, war ich oft enttäuscht von mir selbst, wenn ich das Interesse an einer Sache verlor (was vorauszusehen war) oder eine Sache ausprobierte und Stunden an Zeit investierte, nur um festzustellen, dass sie nichts für mich war. (Hätten meine Eltern es mir erlaubt, hätte ich als Kind jedes verfügbare Instrument im Orchester gespielt oder zumindest ausprobiert. Ich habe mich dann auf zwei beschränkt.)

Die Schande

Scheitern ist unattraktiv. Nicht gerade etwas, worauf man stolz sein kann oder womit man auf einer Dinnerparty prahlen kann. Es ist mit einem großen Stigma behaftet und macht einen in den Augen der Gesellschaft automatisch zu einem Versager, zu jemandem, der keinen Mumm, kein Durchhaltevermögen oder einen schwachen Willen besitzt.
Eine Studie der University of Pennsylvania hat herausgefunden, dass „Grit“ aka „Durchhaltevermögen“ der wichtigste Faktor ist, der vorhersagt, ob jemand seine Ziele erreicht oder nicht, und der alle anderen Fähigkeiten übertrifft.

Und was ist mit mir, dem „Scanner“? Bin ich dazu verdammt, eine ewige Verliererin zu sein, weil ich viele (die allermeisten) meiner Projekte nicht zu Ende bringe? Weil mir offensichtlich der entscheidende ‚Grit‘ fehlt?
Es gab mehrere Gelegenheiten, bei denen mich jemand nach dem Projekt gefragt hat, von dem ich ihm oder ihr meim letzten Treffen begeistert erzählt hatte. Damals ging es um einen Schiffscontainer, den ich in ein Tiny House umbauen wollte. Ich musste zerknirscht zugeben, dass das Projekt eingestellt worden war. Ich war deswegen zwar ein wenig betrübt, aber die Enttäuschung meiner Freunde zu sehen, machte es irgendwie schlimmer. Ich schämte mich.
Wenn du jemandem von deiner Idee erzählst, wird er oder sie emotional in sie verwickelt. Scheitern man dann, lässt man auch sie im Stich. Zumindest fühlt es sich so an.

Laut und leise scheitern

Nach dem verpatzten Projekt mit dem Container habe ich angefangen, Projekte so zu planen, dass sie „im Stillen“ scheitern. Ich behielt die neue Sache mindestens einen Monat lang für mich, weil sie mich in dieser Zeit meist sowieso begann, zu langweilen. Wenn es mich nach dieser Phase immer noch interessierte, erzählte ich es vielleicht ein oder zwei Leuten. Aber manche Dinge behalte ich lieber für mich. Ich würde zum Beispiel gerne Schriftstellerin werden. Wenn ich jemandem davon erzähle, ist das mit einem großen Druck verbunden. Worüber wirst Du schreiben, wann ist das Buch fertig? Ich weiß es nicht, in zehn Jahren vielleicht? Aber ich weiß ganz sicher, dass ich das will. Wenn ich mich dafür entscheide, in diese Richtung zu gehen, werde ich konstant und brutal scheitern – wahrscheinlich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren.

Und das ist in Ordnung. Schreibfähigkeiten entwickeln sich nicht über Nacht, wie das halt ist bei allen neu erworbenen Fähigkeiten. Man fängt als Lehrling und Amateur an, arbeitet an seinen Fähigkeiten und wird mit der Zeit immer besser. Und: man scheitert immer wieder. Es hat keinen Sinn, zehn Jahre lang an diesem einen Buch zu arbeiten und mich der Illusion hinzugeben, dass es beim ersten Mal perfekt werden muss. Stattdessen werde ich viele schlechte Bücher schreiben, die keinen Erfolg haben werden. Aber nach jedem abgeschlossenen – und gescheiterten – Projekt werde ich wichtiges Feedback bekommen, aus meinen Fehlern lernen und weitermachen. Nach zehn Jahren habe ich vielleicht 13 erfolglose Bücher geschrieben, bevor ich zufällig nicht mehr scheitere, so wie es beim (inzwischen bekannten) Sci-Fi / Fiction-Autor Brandon Sanderson der Fall war. Wenn ich jetzt anfange, werde ich in zehn Jahren viel besser sein als jetzt. Dann werde ich 40 Jahre alt sein (holy shit!). Aber 10 Jahre vergehen sowieso, warum also nicht 40 Jahre alt und eine Autorin sein?

Um in irgendetwas erfolgreich zu sein und den Lernprozess in Gang zu bringen, muss man irgendwann damit anfangen. Und da haben wir das Problem. Denn die meisten Menschen fangen gar nicht erst an, aus Angst vor dem Scheitern.

‚You guys love Security‘

Diese Tatsache wurde mir vor etwas mehr als einem Jahr irgendwo an der Küste Mexikos schlagartig klar. Mein Partner und ich machten drei Wochen lang Urlaub in Puerto Escondido, ließen uns in den seichten Wellen der Bucht treiben, versuchten unser Glück beim Surfen und – was am wichtigsten ist – trainierten in einem örtlichen Brazilian Jiu Jitsu Gym. Wir lieben es, im Urlaub solche Gyms zu besuchen, weil wir dabei jedes Mal tolle Leute kennen lernen. Nach ein paar Tagen wurden wir zu einem Grillfest im Haus eines der Trainer eingeladen, zu dem auch die Hälfte des Gyms eingeladen war. Die Wohnung bot eine Dachterrasse mit Bier, viel Fleisch, guter Laune und interessanten Leuten, mit denen man sich unterhalten konnte.

Ich kam mit einem Typ ins Gespräch, der seine eigene T-Shirt-Marke besitzt. Er gestaltete auch die T-Shirts für das BJJ-Gym, die mir sehr gut gefielen. Wir sprachen darüber, wie er dazu gekommen war, und ich erzählte ihm auch von meinen kleinen Unternehmungen. Zu der Zeit steckte ich knietief in meiner eigenen Marke für brasilianische Jiu-Jitsu-Sportbekleidung (albern und farbenfroh, als Kontrast zu der sonst „furchterregenden“ und totenkopflastigen schwarzen und grauen Kleidung des Sports). Ich sagte, dass die Leute dort, wo ich herkomme, normalerweise ihre ‚dummen‘ Ideen nicht weiterverfolgen, weil sie Angst haben, zu scheitern. Er entgegnete: „Well, you guys love security“ „Ihr liebt halt die Sicherheit“. Er fügte hinzu, dass es dort, wo er herkommt, der einzige Weg zu überleben ist, seine Träume zu verwirklichen. Man muss es schaffen oder sein Leben damit verbringen, an einem Taco-Stand zu arbeiten.

Er erwähnte auch, dass diese kleinen Projekte für mich nur ein Spiel in einer ansonsten sicheren Umgebung sind, während es für ihn ums Überleben geht. Dieses Gespräch auf der Dachterrasse werde ich nie vergessen. Denn er hatte recht. Ich habe nicht viel Geld auf meinem Bankkonto und schramme meist am Boden entlang. Aber ich bin auch nicht verschuldet. Ich habe einen Job, der gut bezahlt wird. Ich könnte jederzeit mehr arbeiten und folglich auch mehr verdienen. Ich habe keine Kinder zu ernähren oder eine Familie zu unterstützen. Ich habe einen wunderbaren Partner, der mir mit Sicherheit unter die Arme greifen würde, wenn ich jemals in eine Notlage geraten sollte. Außerdem habe ich Eltern, die mich – sollte ein Feuer in diesem Moment alles vernichten, was ich besitze – wieder bei ihnen einziehen lassen würden, damit ich nicht unter einer Brücke leben muss. Ah ja, und den Staat gibt es auch noch. Sicherheitsnetz, über Sicherheitsnetz, über Sicherheitsnetz. Würde ich durch all diese Netze falle, ich lande immer noch weich.

Das Gespräch in Mexiko hat mir Mut gemacht, noch mehr zu tun und zu versuchen. Wenn ich nicht mit großen Geldbeträgen zocke (was ich nicht vorhabe), ist es praktisch risikolos, bei jedem Projekt zu scheitern, abgesehen davon, dass mein Ego einen kleinen Kratzer bekommt. Aber davon abgesehen: No Pain, only gain! Meiner Erfahrung nach hat sich noch jedes gescheiterte Projekt in irgendeiner Weise später als Erfolg herausgestellt.

Wie man erfolgreich scheitert

Ein Beispiel: Ich habe versucht, Programmiererin zu werden. Es schien eine gute Idee zu sein. Man kann damit gutes Geld verdienen und von überall auf der Welt arbeiten, vorzugsweise von einer abgelegenen Insel aus. Also habe ich ein paar kostenlose Online-Kurse auf Codecademy besucht, hauptsächlich Html und CSS, C++, PHP und Python, nur um festzustellen, dass ich mich mehr für die visuell ansprechenden Frontend-Sprachen interessiere. Html und CSS habe ich weitergemacht, weil ich das Potenzial sah, Websites zu erstellen. Irgendwann entdeckte ich WordPress, was meine Kenntnisse in diesen Sprachen überflüssig machte. Also habe ich mit den Kursen aufgehört, nicht aber mit den Webseiten kreieren.

Ich werde nie eine Programmiererin sein, und das wusste ich wahrscheinlich schon, bevor ich anfing. Aber in meinen Augen sind diese investierten Stunden alles andere als verschwendet. Ich habe mir Fähigkeiten angeeignet, die es mir ermöglichen, im Ozean der Programmierung und des Webdesigns herumzupaddeln. Wenn ich jemals eine dumme Idee für einen Shop oder irgendetwas anderes habe, wofür eine Website gebraucht wird, kann ich sie einfach verwirklichen. Hier sind ein paar Dinge, die ich gelernt habe:

  • Wie man Code liest
  • Wie man einen Arduino-Mikro Computer programmiert
  • Wie man Datenbanken aufbaut und mit einer Webseite verknüpft
  • Wie man eine Webseite von Grund auf mit Html aufbaut (es wurde sehr viel geflucht)
  • Wie man innerhalb einer Stunde eine funktionierende Webseite, Shop oder Ähnliches ins Leben ruft,
    was ich seit dem schon mehrere Male getan habe.

Wo beginnen?

Praktisch alle meine gescheiterten Projekte hatten diese netten kleinen „Nebeneffekte“. Ich bin süchtig danach geworden, herauszufinden, welche das sein werden. Aus diesem Grund habe ich vor, in Zukunft noch viel mehr zu scheitern, und das solltest Du auch.
Wenn Du keine Ahnung hast, was Du überhaupt versuchen sollst, schlage ich Dir das Stupid-Idea-Experiment vor.
Schreibe 10 dumme Dinge auf, die Du tun, lernen oder erfinden könntest. Morgen schreibst Du 10 weitere Dinge auf. Das können und dürfen keine guten Ideen sein! Es kann etwas Triviales sein. „Schwarze und graue Post-its für Designer-Büros“ oder „Geige lernen“ (ich habe nicht vor, Geigerin zu werden, aber es würde so viel Spaß machen, es zu versuchen).


Inspiration kommt nicht in Form einer Glühbirne, sondern in Form einer Reihe potenziell dummer Ideen, die aufeinanderprallen und eine nicht-so-schlechte Idee hervorbringen. Diese wiederum verbindet sich mit einer anderen dummen Idee von vor drei Monaten und verwandelt sich in eine glorreiche Idee. Wenn Du Schwierigkeiten hast, 10 Ideen zu finden, dann setze Deine Ansprüche herunter und schreibe 20 auf. Ideen sind keine kostbare oder begrenzte Ressource. Du bist in der Lage, einen endlosen Strom von Ideen zu produzieren, und Du wirst immer besser darin werden, wenn Du Deinen Ideenmuskel trainierst. Schreibe sie in ein Notizbuch, eine Excel-Tabelle oder wo auch immer Du sie wieder finden kannst.

Wenn Du Dich voll reinhängen willst, habe ich eine noch interessantere Aufgabe: Generiere innerhalb von drei Monaten 1000 Ideen (10 pro Tag), 100 gute Taten, die Du für andere tun kannst, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten (eine pro Tag), und erlerne 10 neue Fähigkeiten – unabhängig von ihrer Nützlichkeit. Ich verspreche Dir, wenn Du das tust, wird sich Dein Leben verändern. Da sozialer Druck der beste Motivator ist, kannst Du es wie ich machen und Gleichgesinnte zu einem gemeinsamen Google Sheet einladen. So könnt ihr euch gegenseitig inspirieren und für das Überspringen von Ideen zur Rechenschaft ziehen.

Wenn Du also in diesem Jahr an einer Sache erfolgreich scheitern könntest, was wärst Du bereit zu versuchen?

„It is impossible to live without failing at something, unless you live so cautiously that you might as well not have lived at all – in which case, you fail by default.“

J.K. Rowling
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